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Die Kopfverletzung von Jan Vertonghen löst bei Ärzten Sorgen aus.

Gefährliches Spiel

DÜSSELDORF Es läuft die 31. Minute im Champions-League-Halbfinale zwischen Tottenham Hotspur und Ajax Amsterdam. Der Ball fliegt hoch und weit in den Strafraum. Andre Onana, der Schlussmann der Niederländer, springt heran und versucht, das Spielgerät aus der Gefahrenzone zu fausten. Das gelingt ihm bedingt – vor allem streckt er zwei Gegenspieler nieder. Während Toby Alderweireld schnell Entwarnung
gibt, kauert Jan Vertonghen auf dem Boden. Sein Gesicht ist überströmt mit Blut. Der Abwehrspieler ist mit dem Gesicht auf den Hinterkopf seines Mitspielers geknallt.
Die herbeieilenden Mitarbeiter aus dem medizinischen Stab der Spurs doktern minutenlang am Patienten herum, versuchen ihn notdürftig zu flicken. Worauf sie besonders akribisch achten: Vertonghen wird nach seiner Behandlung im Kabinengang komplett neu eingekleidet – da sind die Vorschriften streng, kein Bluttropfen darf auf dem Outfit zu sehen sein. Wie es ihm wirklich geht? Nebensächlich. Und so meldet sich der Verteidiger tatsächlich wieder einsatzbereit. Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz aus Spanien kann es selbst nicht glauben, unterbricht die Begegnung und versucht, sich selbst ein Bild vom Gesundheitszustand zu machen. Er ist im Hauptberuf übrigens Sportlehrer. Nach Rücksprache mit den Betreuern und Tottenham-Trainer Mauricio Pochettino gewährt er Vertonghen die Rückkehr. Immerhin 30 Sekunden hält der sich auf den Beinen, bis der 32-Jährige selbst abwinkt und sichtlich gezeichnet um Auswechslung bittet. Er muss sich wiederholt übergeben, wird von zwei Betreuern gestützt. Nun erst beginnen ernsthafte Untersuchungen. Bis dahin ist wertvolle Zeit verstrichen, die ihn schlimmstenfalls das Leben hätte kosten können. Ein paar Stunden später gibt Vertonghen selbst Entwarnung. Es sei alles okay. Wirklich?
Bei einer Gehirnerschütterung kommt es als Folge einer äußeren Krafteinwirkung auf den Kopf, wie durch einen Zusammenstoß, Aufprall  oder Schlag, zu einer vorübergehenden Störung der Hirnfunktion. Strukturelle Hirnschäden, also eine Schädigung des Hirngewebes, finden sich dabei in der Regel nicht. Typische Symptome, die oft mit Verzögerung  von einigen Stunden auftreten können: Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, Verwirrtheit sowie Erinnerungslücken. „Werden solche Symptome nicht richtig erkannt und vollständig auskuriert, kann es zu bleibenden Schäden kommen. Wie lange ein Spieler aus dem Trainings- und Spielbetrieb genommen werden sollte, hängt stark vom Einzelfall ab“, sagt der Düsseldorfer Sportarzt und Neurologe Rafael-Michael Löbbert. „Deshalb schauen wir uns, wenn möglich, Videos des Ereignisses an, um besser nachvollziehen und einschätzen zu können, was genau passiert ist.“ Im Fußball, sagt Löbbert, habe man die Gefahr lange nicht ernstgenommen.
Beim Fußball wirken extreme Kräfte auf den Körper ein. Vieles davon wurde in dem „Männersport“ lange hingenommen. Irgendwann sind Schienbeinschoner eingeführt worden. Die Folge: Aus extrem komplizierten Brüchen sind zumeist glatte geworden. Im Kopfbereich sind die Spieler bis heute erheblichen Belastungen ausgesetzt – der Ball kommt mit bis zu 100 Stundenkilometern angerauscht, dazu landen Ellbogen häufig Volltreffer. Das Spiel wird immer athletischer, die Knochen werden aber nicht im gleichen Maße robuster. „Bei einem Kopfball etwa wirken G-Kräfte des 30- bis 40-fachen der Erdanziehungskraft auf den Kopf ein“, erklärt Löbbert. „Wenn man bedenkt, dass es beim normalen Gehen über die Straße nur etwa 1 G ist, wird schnell die Dimension deutlich.“ In anderen Sportarten ist es noch extremer: Im Boxen sind es bei Wirkungstreffern zwischen 50 und 100, beim Football und Eishockey 80 bis 100 G. „Ein gezieltes Training von Kraft, Technik und kognitiven Fähigkeiten ist erforderlich, damit ein Sportler diese Belastungen aushalten kann“, sagt Löbbert. „Er muss im Spiel jederzeit wahrnehmen können, was um ihn herum passiert und dementsprechend reagieren können.“
Der 20. Spieltag in der Bundesliga. Es ist der 2. Februar, Max-Morlock- Stadion in Franken. Der 1. FC Nürnberg empfängt Werder Bremen. Bei einer Ecke rauscht Christian Mathenia, der Torwart der Gastgeber, mit Theodor Gebre Selassie zusammen, fasst sich im Fallen an den Kopf. Auf dem Boden bleibt er dann mit geschlossenen Augen bewusstlos liegen. Mathenia selbst sagt hinterher: „Ja, ich war kurz weg. Als ich die Augen wieder aufgemacht habe, war ich wieder da.“ Nürnbergs Teamarzt Matthias Brem (42) sagt der „Bild am Sonntag“: „Zum Zeitpunkt der Verletzung gab es auf dem Platz keine Anzeichen einer Gehirnerschütterung.“ Michael Köllner, der damalige Trainer, sagte: „Er ist hart im Nehmen.“ Mediziner sind fassungslos über das Vorgehen in Nürnberg. „Unwissenheit kann hier als Entschuldigung nicht akzeptiert werden, denn allen Verantwortlichen auf dem Platz müssten die Handlungsempfehlungen zum ,leichten Schädel-Hirn-Trauma im Sport‘ hinreichend bekannt sein. An alle Verantwortlichen haben der DFB und die Fifa eine Taschenkarte mit den wichtigsten Vorgaben ausgegeben. Die Thematik ist Bestandteil der Ausbildung und wird auf Lehrgängen regelmäßig wiederholt“, sagt Michael Fritz aus Viersen, 2. Vorsitzender des Sportärztebundes Nordrhein. „Trotz vieler prominenter Fälle im Sport wird das Thema Gehirnerschütterung oft bagatellisiert und eher herablassend anstatt besorgt betrachtet. Die betroffenen Sportler dürfen nicht sich selbst überlassen bleiben und im schlimmsten Fall sogar weiterspielen.“
Der DFB hat im Nachwuchsbereich reagiert. Der Verband empfiehlt, erst mit 13 oder 14 Jahren mit dem Kopfballtraining anzufangen – und dann zunächst mit einem leichteren Ball. Es halten sich aber viele nicht an die Vorgaben. Mediziner wie Fritz und Löbbert, der unter anderem Fußball-Bundesligist Fortuna Düsseldorf betreut, halten es für einen wichtigen Schritt, dass sich Verantwortliche des Themas annehmen. Das Tragen eines Helmes hält Löbbert im Fußball nicht für praktikabel. „Ein Helm schützt in erster Linie vor äußeren Verletzungen. Die auf den Kopf einwirkenden Kräfte werden zwar verteilt und abgeschwächt, können aber durch ihn nicht wie bei einem Blitzableiter abgeleitet werden“, sagt er. Wichtiger wäre es, am Saisonanfang eine neurologische Untersuchung aller Spieler verpflichtend vorzuschreiben.
Löbbert fordert eine weitere Änderung des Regelwerks: Ein Spieler, der am Kopf getroffen wurde, müsste für eine bestimmte Zeit und zusätzlich zum bestehenden Kontingent ausgewechselt werden können, um ihn in ruhiger Umgebung zu untersuchen. Für die Gesundheit könnte diese Auszeit durchaus förderlich sein.

In der NFL sind Kopfverletzungen Alltag: 2018 kam es in der Football League (NFL) zu 121 Gehirnerschütterungen. Zahlreiche Spieler erkranken als Folge an Chronisch traumatischer Enzephalopathei, einer neuropathologischen Gehrinveränderung.

© Rheinische Post 3.05.2019  - von Gianni Costa

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